Warum erst jetzt? Kann man Menschen glauben, die erst viele Jahre nach den Vorkommnissen ihre Geschichte erzählen? Die sogar ihren Peiniger bei einem Prozess in Schutz nahmen und ihn so paradoxerweise vor dem Gefängnis schützten? Man kann.
Dass Wade Robson und James Safechuck erst jetzt mit der Wahrheit rausrücken, ist nämlich alles andere als selten bei Missbrauchsopfern. Im Gegenteil, bestätigt eine Sprecherin des Vereins 'Dunkelziffer' gegenüber Hamburg 2. Es sei völlig normal, dass diese sich erst Jahre oder sogar Jahrzehnte nach den Ereignissen äußern könnten. Auch Psychotherapeut Peter Ellesat vom Kinderschutzzzentrum Berlin erklärt gegenüber ze.tt, dass es in der Kindheit oft nicht möglich sei, den Missbrauch zu offenbaren, sondern erst im Erwachsenenalter: 'Kinder sind sehr egozentrisch und denken, dass wenn etwas schief läuft, dass es an ihnen liegt.'
Denn vor allem das hat die Doku zumindest bei mir geschafft: Offenzulegen, wie es möglich war, dass so viele Kinder so lange geschwiegen haben oder es bis heute tun (Stichwort Macaulay Culkin). Die Antwort ist die: Michael Jackson hat seine Macht und Ausstrahlungskraft auf Kinder eklatant missbraucht. Diese so manipuliert, bis sie dachten, all das sei richtig so und ganz normal. Robson und Safechuck berichteten von achtstündigen Telefonaten, intimen Bekenntnissen des Popstars ihnen gegenüber und gar symbolischen Hochzeiten mit den Kindern. Es wurden Eheringe austauscht! Wie er sich zuerst in den Alltag ihrer Familien einschmuggelte, sie dann von ihrem Umfeld entfremdete, mit Geschenken überhäufte und dem Gedanken, 'der Einzige' für Michael zu sein, in ihren Bann zog. Gleichzeitig entwarf Jacko das Horror-Szenario eines Lebens hinter Gittern, sollten sie jemals etwas von den sexuellen Handlungen erzählen.
Für mich klingt das nachvollziehbar, authentisch, plausibel. Ich glaube vor allem Safechuck, dem man die Qual bei dem Gedanken an die damaligen Ereignisse und seine eigene kindliche Naivität deutlich ansieht. Erst viel zu spät realisiert zu haben, dass das, was da passierte, Missbrauch war. Wie die damaligen Geschehnisse ihre Schatten vorauswarfen, in Schlaflosigkeit und Angstuzstände mündeten - ohne zunächst zu wissen, warum. Warum der damals 7-jährige Robson und der 10-Jährige Safechuck auch ihren Müttern immer wieder glaubhaft versicherten, es sei alles unschuldig, was im Schlafzimmer des sogenannten 'King of Pop' geschah. Einfach deswegen: Weil sie ihn liebten.
Ich weiß auch, dass Jackos Lobby immer noch stark ist. Auch bei OKmag.de gehen täglich Leser-E-Mails ein, in der die Redakteure mal mehr, mal weniger subtil augefordert werden, für Michael Jackson Partei zu ergreifen, oder gar die Opfer als Lügner zu entlarven. Es gab und gibt leider immer noch viel zu viele Menschen, die die Augen verschließen vor dem, was immer mehr mutmaßliche Opfer übereinstimmend berichten: Dass Michael Jackson sie sexuell missbraucht hat. Und es sind inzwischen viel zu viele, um noch von geldgierigen Einzelfällen auszugehen. Zumal auch Angestellte der Nerverland-Ranch die Schilderungen der Kinder unterstützen.
Dass es in der Doku auch Unstimmigkeiten gibt - mag sein. Darum alles in Zweifel zu ziehen, ist fatal. Wer sich selbst an seine Kindheit erinnert, bringt auch mal Szenarien, Orte, Jahreszahlen durcheinander. Für mich sind solche 'Fehler' eher ein Beweis dafür, dass die Zeugen in der Doku die Wahrheit sagen.
Und ja, Michael Jackson ist in dem spektakulären Gerichtsprozess 2005 freigesprochen worden. Das heißt aber noch lange nicht, dass er unschuldig war. Es heißt vor allem, dass der Popstar sehr sehr viel Geld hatte, um die teuersten Anwälte und PR-Leute der Welt zu bezahlen. Zumal die Aussagen der Geschworenen heute in einem extrem zweifelhaften Licht erscheinen.
Und ja, Jacko hatte selbst eine so schlimme Kindheit, die von Gewalt, Drill und mangelnder Liebe gekennzeichnet war, dass es kein Wunder ist, dass aus ihm die bizarre Person wurde, die er offenbar war. Das rechtfertigt jedoch nichts von dem, was er getan hat - es erklärt dies nur.
Und ja, Michael kann sich nicht mehr wehren. Aber sollte man einen zweifellosen Ausnahmekünstler deshalb verklären und alle, die den Finger in die Wunde legen, als Lügner abstempeln? Auf keinen Fall. Was für ein fatales Signal wäre das für alle Missbrauchsopfer. Zu sehen, dass ihnen sowieso niemand glauben wird.