Julian Nagelsmann: Sein Vater beging Selbstmord
„Ich denke oft an diesen Tag zurück“, erzählt Julian Nagelmann (*23. Juli 1987) im Februar 2024 offen in einem "Spiegel"-Interview. Dem Nachrichtenmagazin berichtet er zudem, wie er vom Selbstmord seines Vaters erfuhr. "Ich war damals auf einem Trainerlehrgang in Oberhaching bei München und habe dort die C-Lizenz gemacht. Und auf einmal hat der Lehrgangsleiter gesagt, ich solle bitte mal hinausgehen." Im nächsten Moment habe er vor seinem damaligen Schwiegervater gestanden, "der mir eröffnete, dass sich mein Papa umgebracht hat". Nagelsmann war von 2018 bis 2022 mit seiner Jugendliebe Verena Nagelsmann verheiratet, mit der er zwei Kinder hat.
Mein Papa hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen, es gab keine Erklärung. Für die Familie fühlt sich das richtig scheiße an, aber mir hat es geholfen zu wissen, dass er unbedingt sterben wollte und es nicht um einen Hilfeschrei oder ein Signal ging. Ich finde, ich muss eine solche Entscheidung dann respektieren.
Er musste schneller erwachsen weden: "Musste mich auf einmal um die Familie kümmern"
Von einen Moment auf den anderen musste der junge Nagelsmann erwachsen werden. Die Zeit nach dem Verlust habe ihn besonders geprägt, berichtet er in dem Interview. "Ich war Anfang zwanzig, musste mich auf einmal um die Familie kümmern, die ganzen Versicherungen regeln. Alltagsdinge eben, an die man in dem Alter eigentlich keinen Gedanken verschwendet. Ich musste schwerwiegende Entscheidungen treffen, auch um meine Mutter zu entlasten, die auf einmal in einem großen Haus ohne ihren Partner wohnte. Mit all ihren Erinnerungen." Damals wurde dem heutigen Bundestrainer offenbar klar, wie vergleichsweise unwichtig einige sportliche Belange seien. Solche Entscheidungen hätten eben eine andere Dimension als Fragen danach, "ob nun der eine oder der andere Stürmer von Beginn an spielt".
Der ehemalige Bayern-Trainer bezeichnet das Verhältnis zu seinem Vater als „ausgezeichnet“. Er habe in seiner Kindheit viel mit seinen Eltern und beiden Geschwistern unternommen, vor allem in der Natur. Nagelsmann hat eine neun Jahre ältere Schwester und einen elf Jahre älteren Bruder. Spielekonsolen und dergleichen habe er damals nicht besessen.
"Man hat ihm den beruflichen Druck angemerkt"
Die Frage nach dem "Warum" habe ihn sehr beschäftigt. Rückblickend glaubt Nagelsmann, dass der Suizid seines Vaters, den er meist als „sehr lustigen Typ“ wahrgenommen hatte, ein Resultat aus der Kombination allgemeine Verfassung sowie berufliche Belastung gewesen sei. Vor seinem Tod habe man ihm "den beruflichen Druck angemerkt."
Daraufhin lüftet Julian Nagelsmann im "Spiegel"-Gespräch ein Familiengeheimnis: Sein Vater war Angestellter beim Bundesnachrichtendienst (BND). Dies habe er selbst erst mit "15 oder 16 Jahren" erfahren. Zuvor lebte er in dem Glauben, sein Vater sei Berufssoldat. "Selbst mein Opa glaubte, sein Sohn sei Soldat." Von seinem Beruf habe sein Vater nur wenig gesprochen, aber "oft gesagt, ihm sei das alles zu viel. Das Teilen von Sorgen fand in seinem Beruf nicht statt. Ihn hat das dann am Ende sehr stark belastet." In welcher Position sein Vater beim BND arbeitete, das sei ihm nicht bekannt. „Ich darf darüber nicht mehr sagen. Und ich weiß auch gar nicht genau, was er gemacht hat. Er war jedenfalls nicht in der Verwaltung.“
"Glaube, dass ich authentisch auftreten kann, weil ich in meinem Leben einiges erlebt habe"
Rückblickend bezeichnet der zweifache Vater seinen eigenen Vater als "mutig": "Er musste im Beruf immer wieder Entscheidungen treffen in dem Bewusstsein, dass der ganze Plan auch in die Hose gehen konnte", sagt der einst jüngste Trainer der Bundesliga. Einige dieser Eigenschaften finde er nun auch bei sich selbst wieder: "Ich glaube, ich habe vieles von ihm übernommen." Daraus habe er für sich privat, aber auch für den Fußball wichtige Lehren gezogen: "Das Schlimmste im Leben ist, wenn man keine Entscheidungen trifft", ist er überzeugt. Das vermittle er nun auch seinen Nationalspielern. "Ich glaube, dass ich in solchen Momenten authentisch auftreten kann, weil ich in meinem Leben einiges erlebt habe."
Eröffnungsspiel bei der EM 2024: "Der Papa hat gefehlt"
Im September 2024 offenbart der Bundestrainer im Interview mit RTL und "Stern", in welchem Augenblick er seinen Vater ganz besonders vermisst hat: Beim Eröffnungsspiel der Deutschen Nationalmannschaft gegen Schottland. Im Stadion drückten seine Liebsten die Daumen, am Ende siegte das DFB-Team mit 5:1. „Da war die Familie vereint. Der Papa hat gefehlt. Das ist natürlich schon ein emotionaler Moment”. Und weiter: „Wenn man da die Hymne hört und so ein bedeutendes Turnier vor der Brust hat, man auf der einen Seite ein bisschen angespannt ist, auf der anderen Seite sich aber freut, dass alle im Stadion sind [...]. Das ist auf jeden Fall ein Moment, den ich gerne mit meinem Papa geteilt hätte. Das wäre schön gewesen.”
Seinem Vater sei es „sehr wichtig gewesen, dass man insgesamt auch positiv durchs Leben geht. Und ich glaube, da haben wir als Nationalmannschaft einen Teil dazu beigetragen [...]. Das hätte ihn sicherlich sehr stolz gemacht”, ist sich Nagelsmann sicher. Dennoch machte ihm der Verlust auf während des Turniers zu schaffen: „Ich würde meinen Vater schon gern mal fragen: Was würdest du an meiner Stelle tun? Aber es geht leider nicht. Da muss ich durch. Man muss sich andere Gesprächspartner suchen. Die bekommen allerdings nie die Wertigkeit wie die vom eigenen Papa.“
Verwendete Quellen: Der Spiegel, ntv.de, fr.de, Stern.de, RTL.de