Anastasia von Russland: Das große Rätsel um die Zarentochter

Anastasia von Russland: Das große Rätsel um die Zarentochter

Eine junge Frau springt 1920 in den Landwehrkanal und wird gerettet. Jahre später behauptet sie, Anastasia von Russland zu sein. Kann das sein? Erst Prinz Philip bringt am Ende Gewissheit. 

Berlin, 17. Februar 1920: Die junge Frau wollte sterben. Von einer Brücke war sie in die eisigen Wasser des Landwehrkanals gesprungen. Doch patrouillierende Schutzmänner sahen sie versinken. Einer zog die Ertrinkende an Land und retteten ihr Leben. 

Wer war sie? 25 Jahre mochte die Frau zählen. Doch sie nannte ihren Namen nicht, schwieg über ihre Herkunft. Man brachte sie in ein Krankenhaus, dann in die „Irrenanstalt“ Dalldorf. Dort wurde die Patientin als „Fräulein Unbekannt“ registriert. Was danach geschah, ist unklar. Es heißt, dass eine Pflegerin oder Mitpatientin 1921 in einer Illustrierten blätterte. Darin fanden sich Fotos der russischen Zarenfamilie, die am 17. Juli 1918 von den Kommunisten ermordet worden war. „Fräulein Unbekannt“ erblickte ein Bild von Prinzessin Anastasia (geboren 1901), der jüngsten Tochter von Zar Nikolaus II. Auf einmal wusste sie oder behauptete sie zu wissen: Das bin ich! 

Aus der Patientin wird eine Prinzessin 

Gerüchte sind wie Viren. Wie sie entstehen und sich verbreiten, liegt oft im Dunkeln. Dann bricht wie aus heiterem Himmel das Fieber aus. So war es im Fall von „Anastasia“. Ab 1922 griff in russischen Emigrantenkreisen die Überzeugung um sich, dass die Patientin von Dalldorf in Wahrheit die letzte überlebende Zarentochter sei. Nun erzählte „Anastasia“ ihre Geschichte: Sie habe die Exekution schwer verletzt überlebt. Ein polnischer Staatsbürger namens Alexander von Tschaikowsky habe sie gerettet und nach Rumänien gebracht. Angeblich folgte die Hochzeit, die Geburt eines Kindes, dann der Tod Tschaikowskys. „Anastasia“ sei schließlich allein nach Berlin gekommen. 

Zweifel an der Identität der "Zarentochter"

Viele Exil-Russen begrüßten die angebliche Prinzessin wie eine Heilsbringerin. Die Zeitungen waren voll von ihr. Andere aber zeigten sich skeptisch. Wie kam es, dass die selbsterklärte „Anastasia“ kein Russisch sprach? Sie war eben traumatisiert, erklärten ihre Verehrer. Anastasias Onkel Ernst Ludwig (1868-1937), der letzte Großherzog von Hessen, war überzeugt: Seine Nichte war tot – und die Frau aus Berlin eine Betrügerin. Er engagierte einen Detektiv, der eine andere Identität für die Unbekannte ermittelte. Demnach handelte es sich um die Bauerntochter und Fabrikarbeiterin Franzisca Czenstkowski, geboren 1896. Seit 1920 galt sie als vermisst. Doch vor hundert Jahren ließen sich Personalien schwerer feststellen als heute. Ab 1928 nannte sich „Anastasia“ Anna Anderson – doch sie beharrte weiterhin auf ihrer Geschichte. Einflussreiche Gönner bestärkten sie in ihrem Vorhaben, einen Teil aus dem Erbe von Nikolaus II. zu fordern (der Zar hinterließ Vermögenswerte im Ausland). 1938 reichte Anderson Zivilklage in Deutschland ein. Dann kam der Zweite Weltkrieg dazwischen. Ab den 1950er-Jahren befassten sich die Gerichte wieder mit dem Fall, der Juristen Kopfschmerzen bereitete. Der 1937 verstorbene Ernst Ludwig von Hessen gewann im Zuge der Beweisaufnahme eine neue Bedeutung. Anderson behauptete, ihn 1916 in Russland gesehen zu haben. Die Gegenseite konterte: Der damalige Großherzog sei deutscher General gewesen. Unmöglich, dass er während des Ersten Weltkriegs ins Feindesland reiste! Damit sei Anderson als Lügnerin entlarvt. 

Verwahrloste "Anastasia" lebte mit 30 Hunden und 100 Katzen

Auch die Richter wollten ihren Behauptungen nicht folgen und verweigerten ihr die Anerkennung als Zarentochter Anastasia. 1970 entschied der Bundesgerichtshof in letzter Instanz gegen die Klägerin. Inzwischen hatte sie den exzentrischen amerikanischen Professor John Manahan (1919-1990) geheiratet, der an ihre royale Identität glaubte. 1968 zog Anna Anderson in die USA. Dafür verließ sie ihr Domizil im Schwarzwald, wo sie, wie es heißt, in einiger Unordnung lebte. Gegen Ende ihres Lebens nahm die Verwahrlosung zu. Anderson lebte mit rund 30 Hunden und 100 Katzen. 1983 wurde sie entmündigt, ein Jahr später starb sie in Charlottesville, USA. 

Anna Anderson (angeblich Prinzessin Anastasia von Russland) und Ehemann John Manahan
Anna Andersons Gatte John Manahan glaubt an ihre Geschichte.© dpa

Prinz Philip bringt am Ende Gewissheit 

1991 wurden Gebeine entdeckt, die für die Überreste der Romanows gehalten wurden. Den Beweis erbrachte ein DNA-Abgleich mit dem Großneffen von Zarin Alexandra: Prinz Philip (1921-2021). Das Erbgut des Herzogs von Edinburgh wurde auch mit dem von Anna Anderson verglichen. Es stellte sich heraus: Eine Verwandtschaft bestand nicht. Die Frau, die 1920 aus dem Landwehrkanal gefischt wurde, war nicht Anastasia. Vielleicht konnte sie ihr Leben nur ertragen, indem sie es in einen Traum verwandelte. 

Dieser Artikel von Rupert Snowdon erschien zuerst in der Printausgabe von "7 TAGE"

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